Indien gehört zu den größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt, hat aber gleichzeitig die zweithöchste Zahl unterernährter Menschen weltweit. Wie kann das sein?
Indien produziert etwa 275 Mio. Tonnen Nahrungsmittel und ist damit der zweitgrößte Produzent. Laut der FAO sind 2017 mehr als 170 Mio. Menschen in Indien unterernährt. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst müssen wir feststellen, dass es nicht grundsätzlich an Nahrungsmitteln fehlt, sondern vielmehr an dem mangelnden Zugang zu Nahrung. Viele Menschen sind einfach zu arm, um sich genug Essen zu leisten. Hinzu kommen fehlender Zugang zu Land, Krankheiten und die saisonale Migration. In Indien gibt es mit dem Food Security Act ein staatliches Hilfsprogramm, das die Ernährung sichern soll. Dieses basiert auf dem Public Distribution System, das insbesondere Grundnahrungsmittel über faire Shops und zu gerechten Preisen anbieten soll. Das funktioniert leider nicht optimal, sodass gerade die Menschen, die das Programm erreichen soll, ausgeschlossen werden. Dann gibt es natürlich auch extreme Wetterereignisse wie Dürren und Überschwemmungen, die dazu führen, dass die eh schon prekäre Ernährungssituation in vielen Regionen verschärft wird.
Welche Folgen hat die Unterernährung?
Unterernährung erhöht das Infektionsrisiko und führt zu schweren Krankheiten bei den Betroffenen. Das Immunsystem wird geschwächt, die Menschen sind viel anfälliger für Krankheiten, leiden an diversen Mängeln und können sich nur schwer erholen. Insbesondere bei Kindern führt Unterernährung zu einer massiven Einschränkung der körperlichen und geistigen Entwicklung.
Maharashtra gilt als einer der ärmsten Bundesstaaten in Indien. Auch hier ist die Ernährungssituation sehr prekär. Was sind die Gründe und welche Rolle spielt der Klimawandel?
Ein wichtiger Grund ist, dass die Anbauflächen für Getreide zurückgegangen sind und im Gegenzug die Flächen für Nutzpflanzen wie zum Beispiel Soja und Baumwolle zugenommen haben. Die Produktion von Sorghum zum Beispiel hat massiv abgenommen. Die Getreideart wächst hier optimal und gehört zu den Grundnahrungsmitteln der Menschen. Hinzu kommen viel zu kleine Land- und Anbauflächen, schlechte Bodenqualität und fehlende oder unzureichende Bewässerungsanlagen. Generell ist die wachsende Land- und Wasserknappheit in der Region ein Problem. Die Auswirkungen des Klimawandels haben die Situation noch weiter verschärft. Der Monsun setzt immer später ein, die Niederschlagsintensität ist extrem unregelmäßig. Das führt immer häufiger zu Dürren und Überschwemmungen. Die Auswirkungen auf die Landwirtschaft sind gravierend.
Was genau sind die Maßnahmen in unserem Projekt, um die Ernährungssituation zu verbessern?
Das Projekt richtet sich an ausgegrenzte Kleinbauern und –bäuerinnen in den dürregefährdeten Regionen. Insbesondere unterstützen wir Frauen, weil sie besonders benachteiligt sind. Durch klimaresistente Anbautechniken, Diversifizierung der Lebensgrundlagen und Stärkung der Gemeindestrukturen verbessern wir die Ernährungssituation der Menschen. Besonders die Regengewinnung ist in unserer Projektregion wichtig. Darüber hinaus setzen wir uns dafür ein, dass der Besitz von Land auf Frauen und Männer übertragen wird. Die Stärkung der Selbstorganisation der Gemeinden spielt eine besonders wichtige Rolle, damit die Projektmaßnahmen nachhaltig sind.
Welche Art der Landwirtschaft kann am besten dazu beitragen, den Hunger in der Region zu bekämpfen?
Unser Ansatz umfasst innovative und moderne Formen des ökologischen Landbaus, die sich den veränderten Gegebenheiten anpassen. Dabei geht es uns vor allem um eine strategische Verlagerung, das heißt, es sollte nicht ausschließlich um eine Steigerung der Erträge gehen, sondern vielmehr um eine widerstandsfähige und nachhaltige Landwirtschaft, die mit dem Klimawandel und kurzfristigen Wetteranomalien umgehen kann. Dazu gehören auch eine systematische Verbesserung der Wertschöpfungsketten in der Nachernte, eine effizientere Wassernutzung, eine Diversifizierung von Anbau- und Viehzuchtprodukten und damit auch eine verbesserte Nährstoffversorgung.
Welche Maßnahmen trifft die Regierung, um die Situation in den von der Dürre betroffenen Regionen zu verbessern?
Die Regierung hat mehrere kurzfristige Hilfsmaßnahmen angekündigt, dazu gehören zum Beispiel Ausgleichszahlungen für Ernteausfälle und die Unterstützung bei der Trinkwasserversorgung. Zu den langfristigen Maßnahmen gehören der Bau von neuen Wasserreservoirs, die Wartung der bereits bestehenden und Solarpumpen für die Bewässerungsanlagen. Zudem hat die Regierung des Bundesstaates das Wasserschutzprojekt „Jalyukt Shivar Abhiyan“ ins Leben gerufen, mit dem Ziel, Maharashtra zu einem dürrefreien Staat zu machen. Dabei spielt die dezentralisierte Regenwassernutzung eine wichtige Rolle. Die Implementierung der Maßnahmen stockt aber immer wieder. Es geht nur schleppend voran.
Arbeitet AFARM im Rahmen unseres Projekts mit Regierungsstellen zusammen?
Ja, wir arbeiten auf verschiedenen Ebenen und mit mehreren Ministerien zusammen. Bei unseren Projekten geht es ja auch darum, die Gemeinden und lokale Strukturen so zu stärken, dass sie ihre Rechte gegenüber staatlichen Stellen einfordern können. So konnten wir zum Beispiel erreichen, dass mehr als 100 000 Euro aus staatlichen Ressourcen für die Zielgruppen zur Verfügung gestellt wurden.
Was sind die Erfolge des Projekts in der Region?
Mit unseren Maßnahmen haben wir dazu beigetragen, dass die Ernteerträge um 166 Prozent gesteigert werden konnten. Auch das durchschnittliche Haushaltseinkommen der Kleinbauern und -bäuerinnen ist um 48 Prozent gestiegen. Bei den landlosen Familien sind es 10 Prozent. 81 Prozent der Frauen und Kinder haben einen besseren Zugang zu vielfältigen Nahrungsmitteln, damit hat sich der Gesundheitszustand deutlich verbessert. Die Gemeindestrukturen, die wir unterstützt haben, haben erreicht, dass 54 Prozent der Haushalte einen Zugang zu den staatlichen Sicherungssystemen haben. 90 Prozent der Haushalte erhalten regelmäßig die staatlich garantierten Mengen an Grundnahrungsmitteln.
Welche Schritte sind notwendig, um das Ziel „Kein Hunger“ in Indien zu erreichen?
Wir müssen dafür sorgen, dass Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln zu erschwinglichen Preisen haben. Dazu müssen die staatlichen Sicherungssysteme insbesondere für die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen ausgeweitet und effektiver gemacht werden. Die Menschen müssen zudem sensibilisiert werden, damit sie ihre Rechte wahrnehmen können. Besonders wichtig ist es, dass die Ernährung der Mütter und Kinder gesichert ist. Um Unter- und Mangelernährung zu bekämpfen, müssen wir auch mehr Aufklärung zu ernährungsphysiologischen Aspekten betreiben. Um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen, müssen wir nachhaltige und klimaresistente Sorten sowie eine Diversifizierung des Anbaus fördern.
Das Interview erschien in der weitblick-Ausgabe 2-2018.