Die aktuellen Ereignisse an Bord der Ocean Viking nach den letzten Rettungen zeigen einmal mehr, dass ein europäisch organisiertes Seenotrettungsprogramm dringend notwendig ist:
Am 22. Juni konnte die Ocean Viking, das 69 Meter lange Schiff von SOS MEDITERRANEE, nach Corona-bedingten Pause im Hafen von Marseille, Frankreich, wieder zu einem Rettungseinsatz auslaufen. In vier Einsätzen am 25. und am 30. Juni wurden 181 Menschen von der Crew aus seeuntauglichen Holzbooten auf hoher See gerettet. Zehn Tage warteten die meisten Geretteten auf der Ocean Viking mit wachsender Verzweiflung darauf, an einem sicheren Hafen an Land gehen zu können. Sieben Anfragen der Crew zur Ausschiffung an die zuständigen Seefahrtbehörden blieben bis zum 5. Juli erfolglos. In dieser Zeit wurde diese Ungewissheit, kombiniert mit der psychischen Belastung der Flucht, den Erfahrungen in Libyen und der erlebten Todesangst auf hoher See unerträglich. Innerhalb von 24 Stunden versuchten sechs Gerettete, sich das Leben zu nehmen. Zuvor waren zwei Menschen über Bord gesprungen, es gab Konflikte und Drohungen einiger, sich selbst und andere zu verletzen. Da die Besatzung die Sicherheit an Bord nicht mehr garantieren konnte, rief der Kapitän am Nachmittag des 3. Juli den Notstand an Bord aus. Erst am 5. Juli, rund 48 Stunden später, wurde die Ausschiffung der 180 Menschen auf der Ocean Viking durch italienische Behörden bestätigt und ein Hafen in Sizilien zugewiesen.
„Dieses Drama wäre vermeidbar gewesen. Bei der Aufnahme von Geretteten duckt Europa sich weg. Vor allem aber fehlt es an einem europäischen Seenotrettungsprogramm, das die humanitäre und solidarische Antwort auf das Sterben im Mittelmeer sein muss“
Verena Papke, Geschäftsführerin von SOS MEDITERRANEE Deutschland
Seit ihrer Gründung vor fünf Jahren hat die zivile europäische Seenotrettungsorganisation SOS MEDITERRANEE insgesamt 31.799 Menschen vor dem Ertrinken bewahrt. Sie alle versuchten, mit seeuntüchtigen Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die Rettung von Menschen in Seenot ist nach internationalem Seerecht Pflicht. Die Rettung ist erst abgeschlossen, wenn die Überlebenden an einen sicheren Ort gebracht wurden.
Statt diese Verantwortung im Mittelmeer wahrzunehmen, haben die EU-Staaten seit 2017 systematisch die libysche Küstenwache mit europäischen Steuergeldern aufgebaut, die ihrer Aufgabe als Rettungsleitstelle kaum nachkommt: Nämlich Rettungen zu koordinieren und einen sicheren Hafen zuzuweisen. Stattdessen wurde sie dazu befähigt, Schiffbrüchige auf hoher See abzufangen und völkerrechtswidrig in das Bürgerkriegsland Libyen zurückzubringen. Auf diese Weise weicht die EU gezielt einer Verantwortung zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer aus und nimmt dafür Völkerrechtsbruch sowie die Gefährdung von Menschenleben billigend in Kauf.
„Europa versucht sich frei zu kaufen und verrät seine Werte“, sagt Verena Papke. „Die Strategie der EU, auf diesem Weg die Migrationskontrolle an Libyen auszulagern, ist absolut inakzeptabel.“
Diese Zusammenhänge und die Folgen dokumentiert die Seenotrettungsorganisation detailliert in ihrem Ende Juni 2020 veröffentlichten Bericht „Völkerrecht über Bord – Wie die EU die Verantwortung für Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auslagert“. SOS MEDITERRANEE appelliert darin an die EU und die Bundesregierung, statt der Finanzierung der libyschen Küstenwache selbst zu handeln. „Die deutsche Bundesregierung muss die EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um sich für ein verlässliches und solidarisches europäisches Seenotrettungsprogramm einzusetzen,“ sagt Verena Papke. SOS MEDITERRANEE fordert außerdem ein transparentes europäisches System zur Ausschiffung aller aus Seenot geretteten Menschen an sicheren Orten und einen gerechten Verteilmechanismus für die Überlebenden.
Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen hat die Organisation zur Rettung Schiffbrüchiger im Mittelmeer mit Reportveröffentlichung eine Petition an Bundesaußenminister Heiko Maas gestartet unter: https://sosmediterranee.de/petition/
Die Hilfsorganisation freut sich über jede*n Unterzeichner*in – während die 180 Geretteten aus 13 Nationen an Bord der Ocean Viking im Mittelmeer weiter hoffen, bald an einem sicheren Ort an Land gehen zu können.