Liebe Martina, wie ist die aktuelle Lage in Nepal?
Nepal befindet sich seit mehr als zwei Wochen im strikten Lockdown. Wir dürfen am Tag nur für 2 bis 3 Stunden das Haus verlassen, um Einkäufe zu erledigen. Das nur zu Fuß oder mit dem Fahrrad, Autos und öffentliche Verkehrsmittel sind verboten. Die Straßen sind wie ausgestorben. Man hört täglich die Sirenen der Ambulanzen. Im ersten Lockdown nutzten die Menschen die Zeit noch für Spaziergänge, heute ist die Angst zu groß. Alle versuchen Lebensmittel auf Vorrat zu kaufen, um möglichst selten das Haus verlassen zu müssen.
Insgesamt spiegeln sich die Entwicklungen in Indien hier in Nepal mit einer Verzögerung von circa 4 Wochen wider. Die Infektionszahlen in Indien sinken derzeit; ähnlich wie hier. Während es am 11. Mai noch mehr als 9000 Neuinfektionen pro Tag waren, sind es seit heute 8000. Momentan ist vor allem die Altersgruppe zwischen 20 und 59 Jahren betroffen, hier ist auch die Sterblichkeit sehr hoch. Insgesamt sind über 44 Prozent aller Getesteten positiv. Das ist besorgniserregend.
Der Lockdown ist noch bis Ende Mai angesetzt und wird sicherlich verlängert. Die Situation ist sehr schwierig und die Menschen zutiefst verunsichert.
MARTINA PURWINS
leitet unser Regionalbüro Südasien und lebt und arbeitet in der nepalesischen Hauptstadt Kathmandu.
Wie ist die Versorgungslage in den Krankenhäusern?
Die Krankenhäuser sind überlastet – egal ob in größeren Städten oder Provinzen. Die Betten in allen staatlichen Krankenhäusern in Kathmandu werden für die Behandlung von Corona-Patient*innen genutzt – die Regierung hat auch die privaten Krankenhäuser angewiesen, 2/3 der Betten für Covid-19-Patient*innen zur Verfügung zu stellen Es mangelt an Sauerstoff, Beatmungsgeräten, Corona spezifischer Medizin, Personal und Schutzausrüstung. Patient*innen warten auf Behandlungen und freie Betten, sie werden teilweise abgelehnt, weil die Kapazitäten nicht ausreichen. In Kathmandu beträgt der Bedarf an Sauerstoffflaschen etwa 15000 pro Tag. Die Sauerstoffwerke können täglich jedoch nur 10000 Flaschen nachfüllen.
Viele Menschen in Nepal, besonders diejenigen, die im informellen Sektor arbeiten, haben keine Krankenversicherung. Sie müssen für ihre Behandlungskosten daher selbst aufkommen. Ein Tag auf der Intensivstation kostet circa 300 US Dollar – ein Durchschnittverdiener erhält im Monat zwischen 100 und 300 US Dollar. Da kann man sich schnell ausrechnen, dass sich das die meisten schlicht nicht leisten können. Dazu kommt, dass Erspartes bereits letztes Jahr aufgebraucht wurde. Die Menschen sind bereits am Rande ihrer Kapazitäten.
In Nepal ist es zudem üblich, für Behandlungen im Krankenhaus die benötigten Medikamente sowie Lebensmittel für den Aufenthalt eigenständig zu besorgen. In vielen Krankenhäusern können die Angehörigen zumindest Medikamente und Nahrungsmittel in Tüten an der Tür abgeben. Wenn das nicht geht, müssen Angehörige zum Teil die nicht-medizinische Versorgung der Patient*innen übernehmen, d.h. sie füttern, waschen, zur Toilette bringen. Das gilt auch jetzt. Allerdings mangelt es an Medikamenten und Schutzausrüstung, und die Angehörigen bringen sich dadurch selbst in Gefahr. Das Krankenhaus ist aktuell der letzte Ort, an dem man sein möchte.
Du lebst und arbeitest in Kathmandu. Wie geht es dir?
Jede*r von uns hat mittlerweile Menschen im Umfeld, die infiziert oder gestorben sind. Es rückt immer näher – und das macht natürlich Angst. Dadurch, dass die Krankenhäuser so ausgelastet oder überlastet sind, macht man sich bereits bei leichteren Beschwerden Sorgen. Was mache ich, wenn ich beispielsweise Zahnschmerzen habe? Unter normalen Umständen würde man einfach zum Arzt gehen, aber in dieser Situation gibt es weder Kapazitäten, noch möchte man sich selbst unnötig in Gefahr bringen. Man fühlt sich hilflos bei dem Gedanken, dass man sich in der aktuellen Lockdown-Situation nicht gegenseitig helfen kann. Alle sind auf sich selbst gestellt. Man kann sich nicht besuchen, höchstens Mut am Telefon zusprechen.
Wird in Nepal aktuell noch geimpft?
Insgesamt haben hier mehr als 2 Mio. Menschen die Erst- und mehr als 360000 Menschen die Zweitimpfung erhalten. Die nächsten Zweitimpfungen waren nun für Mai geplant und fallen damit genau in den Lockdown. Aktuell wird deshalb nicht geimpft und es ist schwer abzusehen, wann es mit den Impfungen weitergeht. Die Verunsicherung der Menschen ist auch deshalb sehr hoch.
Gibt es zwischen Indien und Nepal ähnliche Migrationsströme wie im letzten Jahr?
Ja, letztes Jahr gab es massive Migrationsbewegungen von mehr als 2 Millionen Menschen, nachdem der Lockdown von der indischen Regierung Ende März gelockert wurde. Aufgrund der grünen Grenze zwischen Nepal und Indien wird geschätzt, dass allein nach Nepal bis zu 750000 Arbeitsmigrant*innen innerhalb weniger Wochen zurückgekehrt sind. Ohne Einkommen und Lebensgrundlagen in ihrer Heimat machten sich jedoch viele wieder auf den Weg nach Indien. Ähnliche Entwicklungen sind auch jetzt zu beobachten. Von 37 formellen Grenzen sind lediglich 13 für den Warenverkehr geöffnet. Rückkehrer*innen müssen eigentlich in eine 14-tägige Quarantäne. Die Menschen kommen allerdings zu einem großen Teil über die informellen Grenzen – hier wird weder kontrolliert, registriert noch getestet. Die indische Virusmutation breitet sich daher auch in Nepal aus und gelangt entlang der Migrationsrouten auch bis in entlegene Dörfer.
Wie ist die Versorgungslage auf dem Land?
Gerade in den Bergdörfern ist es sehr schwierig. Die Dörfer sind weit voneinander entfernt, nicht überall gibt es befahrbare Straßen. Die kranken Menschen müssen zum Teil kilometerweit zur nächsten Gesundheitseinrichtung laufen oder mit dem Maultier transportiert werden. Verbreitet sich die indische Virusmutante hier demnach wie befürchtet, wage ich mir die Situation für die dort lebenden Menschen nicht auszumalen.
Was macht dir dieser Tage Hoffnung?
Das fällt gerade schwer zu beantworten. Hoffnung machen die langsam sinkenden Zahlen. Ich hoffe sehr, dass diese weiter sinken und uns in Nepal nicht die gleiche Entwicklung wie in Indien bevorsteht.